Dat war’n Morgen, wie er im Buche steht – graublau, feucht und still. Der Nebel hing überm Kanal wie ein altes Segeltuch, und irgendwo klapperte ein Fensterladen. Ich saß da auf meiner Bank beim Tee, und die Möwen schrien, als hätten sie sich auch was zu sagen.
„Nu, Kapitän,“ ruft einer vom Fenster nebenan, „wo geht die Reise heut hin?“
Ich dreh mich, da steht Fiete, den Rollator in der Hand wie’n Enterhaken.
„Reise?“ sag ich. „Heut fahr ich höchstens bis zur Brücke und zurück.“
„Na, das is doch was“, sagt er, „Hauptsache, du bleibst auf’m Kurs.
Geh mit Gott, aber „geh““
Brücke. Ein einfaches Wort. Aber hier im Heim ist die Brücke alles. Der Ort, wo man sieht, was kommt – und wer kommt. Von da aus kannst du das ganze Gelände überblicken: den Garten, das Gewächshaus, den Teich, wo der alte Karpfen wohnt, und das Pflegehaus gegenüber, wo die Fenster alle gleich aussehen, aber keiner dieselbe Geschichte hat.
Ich nenn sie meine Kommandobrücke. Und wenn ich da stehe, dann is mir, als würd ich wieder auf der „Seeadler“ stehen, damals vor Helgoland. Dieselbe Luft, nur ein bisschen mehr Land drumrum.
Manchmal kommt die Orakel vorbei – weißt du, die mit den hellen Augen, die alles sehen, auch das, was keiner sagt. Sie bleibt gern auf der Brücke stehn, neben mir, und guckt in die Ferne.
„Was siehst du heut, Tetje?“ fragt sie.
„Wind von Westen und Kaffee von Süden“, sag ich.
Sie lacht. „Dann wird’s ein langer Tag.“
Wir stehen da, und keiner sagt was weiter. Das ist das Schöne an der Brücke – du musst nicht reden. Du siehst. Du spürst.
Und wenn du still bist, hörst du das Heim atmen: das Klappern vom Geschirr, das Pfeifen aus der Heizung, das Schlurfen der Pantoffeln im Flur.
Das is Leben, sag ich dir. Leise, aber echt.
Dann kam neulich der Herr Doktor hoch, der Psychologe, der mit den dicken Schuhen. „Na, Herr Tetje, wie geht’s uns heut?“ fragt er.
„Uns?“ sag ich. „Mir gut. Ihnen kann ich nix versprechen.“
Er grinst, und ich weiß, er hat Humor.
„Sie sind also wieder auf Ihrer Brücke?“
„Wo sonst? Ich hab doch kein Schiff mehr. Da nehm ich, was ich kriegen kann.“
Er nickt und sagt: „Das ist gut. Viele suchen noch ihren Platz.“
Ich sag: „Das Problem is, die meisten suchen mit’m Kopf, nicht mit’m Herzen. Und der Kompass, der da drin tickt, der steht selten richtig.“
Da guckt er mich an, als hätt er was gelernt. Aber das ist nur Erfahrung, weißt du. Erfahrung – das ist wie Seemannsgarn, bloß dass’s stimmt.
Fiete kam später wieder hoch. Hatte seine Mütze schief auf und einen Apfel in der Hand.
„Haste mal probiert, den Karpfen unten zu füttern?“ fragt er.
„Nee“, sag ich, „der Kerl hat schon mehr Brot gesehen als ich.“
„Tja“, meint Fiete, „der is alt. So wie wir.“
„Dann hat er’s verdient, satt zu sein.“
Wir lehnen über das Geländer und gucken runter in den Teich. Der Karpfen zieht seine Runden, ruhig und gelassen. Ich denk: So will ich alt werden. Nicht still, aber ruhig. Nicht schnell, aber stetig. Und wenn’s soweit is, dann leg ich endgültig an – ohne Tamtam, ohne Trompete.
„Weißt du, Fiete,“ sag ich, „manche haben Angst vorm Ende. Ich nicht. Ich seh’s wie’n Hafen. Und vielleicht steht da ja einer mit’n Tau und sagt: ‘Na, Jung, schön, dass du wieder da bist.’“
Fiete nickt. „Ja, und dann gibt’s Grünkohl mit Pinkel.“
Wir lachen, und in dem Moment ruft Orakel vom Garten unten: „Ihr zwei alten Schiffer! Kommt runter, die Sonne guckt raus!“
„Sonne?“ sag ich. „Na, dann los, die Kommandobrücke hat heut frei.“
Und so steig ich langsam die Stufen runter, die Hände am Geländer, das Bein ein bisschen steif, aber das Herz leicht.
Unten duftet’s nach Kaffee, irgendwo spielt einer Mundharmonika, und die Möwen drehen ihre Kreise überm Dach.
Ich denk mir: Ja, dat is mein Leben jetzt – kein Schiff, kein Mast, kein Meer, aber trotzdem Fahrtwind im Gesicht.
Ich hab gelernt: Man braucht keine Wellen, um Kapitän zu bleiben. Man braucht nur’n Platz, wo man stehen und gucken kann.
Und wenn einer fragt, wo meine Brücke ist, dann sag ich:
„Da, wo der Blick frei bleibt – auch wenn das Schiff längst im Hafen liegt.“
Chor (aus der Ferne, verschmitzt):
„Na, Tetje, du alter Steuermann –
hältst du Kurs, auch wenn kein Kompass mehr leuchtet?“
„Er hält ihn mit’m Herzen,“ ruft Orakel.
„Und mit’m Humor!“ knurrt Fiete.
„Dat is wie mit dem Wind,“ sagt einer, „du siehst ihn nicht, aber er treibt dich doch voran.“
Und irgendwo ganz hinten,
wo die Sonne über dem Heim steht wie ein goldener Kutter,
da bläst einer ins Horn und ruft:
„Aye, Tetje – Kurs halten!“
⚓️ Ende Kapitel 6 – Die Brücke
