Es war ein klarer Vormittag und ich dachte gerade an das übliche Schietwetter.

Aber heute ist die Luft frisch und der Himmel so blau, dass selbst die Möwen überrascht schienen..
Tetje stand am Denkmal oben am Hafen, als er ihn schon von weitem kommen sah. Er erkannte zuerst das typische Bewegungsbild von Napoleon, ganz typisch wie eine Fata Morgana. Bei Napoleon war das Besondere daran, dass er ganz diskret und fast ständig von seinem Hutträger begleitet wurde. Das hat irgend etwas mit seiner alten Geschichte und Erbschaften zu tun, aber mehr wissen wir nicht.
Aus der Ferne schon wirkten die beiden wie nur eine einzelne Person, der eine lediglich wie der Schatten des anderen. Der Gang des einen wirkte wie die Hintergrundmusik für den Gang des anderen. Und umgekehrt. Der Schatten des einen schien nicht auf den Schatten des anderen zu fallen. Der Schatten des anderen schien die Bewegungen des anderen vorzubereiten.
Tetje und ich, wir konnten die beiden eigentlich gut unterscheiden. Wir wussten, wer von den beiden wer ist. Solange sich die Beiden um die Mütze streiten, solange wissen wir das auch nicht immer. Erst wenn einer von beiden es geschafft hat, sich die Mütze aufzusetzen, sind wir dann sicher.
Natürlich halten wir uns bei dem Streit raus. Das geht uns nichts an und ist auch besser so. Am Ende sagen wir dann einfach, dass derjenige von den beiden mit Mütze natürlich Recht hat. Sonst geht der ewige Streit wieder von vorne los. Das wissen wir aus Erfahrung.
Napoleon, der einstige und damalige Herrscher, dieses Mal nicht in goldenen Sälen, nicht auf einem Schlachtfeld, sondern mitten durch Hamburg schreitend – den Mantel wehend, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Napoleon wirkte natürlich immer noch so, als hielte er das Schicksal Europas in Händen. Napoleon mochte den Gang durch Menschenmassen und seine Zuschauer auf dem Bürgersteig. Napoleon spielte aber nicht nur mit Ländern und Armeen, er manipulierte mit Blicken, Gesten, Zeichen. Er sprach mit Hand und Gesicht und ohne Worte.
Am Elbufer, dort wo der Park sich öffnet, blieb Napoleon plötzlich stehen. Vor ihnen ragte es auf: das gewaltige Bismarck-Denkmal. Ein Koloss aus Stein, wuchtig, unbeweglich, den Blick fest nach Westen gerichtet. Ein Zeugnis seiner Zeit geschaffen für die Ewigkeit. Ein Blick aus einer alten Zeit in eine neue Zeit. Das konnte Napoleon aus eigener Erfahrung nachvollziehen.
Er erinnert sich eines seiner eigenen Denkmäler im Norden Frankreichs, das nicht seinen Blick, sondern seinen Hintern gen England richtet. Es ist alles eine Frage des politisch korrekten Standings sinniert er dabei grinsend.
Napoleon verschränkte die Arme, blickte hoch.
„Also das ist er also – der deutsche Gigant.“
Wo guckt er gerade hin?
Woran muss er dabei denken?
Was hält er von der heutigen Zeit?
Napoleon sog die Luft ein, schnaubte beinahe. „Größe misst man nicht in Metern Stein. Größe misst man in Zügen, die die Welt verändern.“ Er wurde von so vielen Leuten nach seinen Denkmälern gefragt. Aber was sollte er selber, Napoleon, dazu sagen?
„Sollte er zugeben, dass ihn selber die kleinen Gesten anderer Menschen im Leben bewegt haben, eigene Denkmäler zu errichten?
Sollte er zugeben, dass er selber mit den Denkmälern alleine nichts anfangen kann?
Dass er lieber Fragen stellt und antwort, statt nur in Gesichter und in die Geschichte zu schauen?“
Der Bismarck grinste ihn plötzlich an und kein anderer schien das zu bemerken. Bismarck schien seine Fragen verstanden zu haben. Es war ein neugieriges Lächeln. Es lud ihn zu einem Gespräch ein und fragte auch mit den Augen.
Das ist ihm schon öfter passiert und die anderen sagen dann, dass das Einbildung ist. Deswegen wundert es ihn auch dieses Mal nicht, dass alle anderen so tun, als würden sie nicht sehen oder hören am Denkmal von Bismarck. Und tatsächlich verzieht sein Gesicht gerade mehr als einen Muskel, denn Bismarck ist über solch eine bedeutsame Mütze, wie er sie vor sich sieht, doch sehr überrascht.
„Ich frage mich gerade, wer Ihr selber seid, werter Herr. Ihr stellt mir Fragen, ohne Euch selber vorzustellen und habt es auch unterlassen, in höflicher Manier Euren Hut vor mir zu lüften. Erlaubt mir bitte zu bemerken, dass das zu meiner Zeit üblich ist.“
Tetje konnte sich ein eigenes Grinsen nicht verkneifen. Er erinnerte sich an die Geschichten von Napoleon, die er ihm selber am Strand erzählt hatte. Aber immer erst, wenn Napoleon und der Esel seinen Willen bekommen hatte. Also der Esel.
Mal war es Napoleon als junger Korsenkopf, der im Hafen von Ajaccio Seemannslieder hörte. Mal war es Napoleon als Stratege auf dem Schachbrett Europas. Mal war es Napoleon zuhause auf seiner Insel auf der Bank vor dem Haus.
Und jetzt stand Napoleon hier und dachte an das Leben von Bismarck.
Er stand vor Bismarck, einem Mann, der erst viele Jahrzehnte später die Landkarte mit Tinte neu zeichnen sollte.
Vor einem Mann, der noch viel zu jung ist, das wahre Geschehen auf der Welt zu verstehen.
Vor einem Mann, der noch gar nicht weiß, wie viel Geschichte in ihm selber steckt.
„Ein Denkmal für Bismarck – pah!“, dachte Napoleon, und einige Spaziergänger blieben stehen, um angeblich die Enten zu füttern.
„Was hat Bismarck denn schon selber getan? Ein paar Fürsten geeint, ein Reich zusammengeklebt.
Ich selber habe Königreiche erschüttert, Kaisertümer geschaffen, die Sonne Europas neu geordnet.“
Bismarck hob den Kopf, als wollte er seiner Frage mehr Ausdruck, Gewicht und Forderung geben.
„Man könnte sagen, dass wir es beide geschafft haben, Stein auf Stein zu setzen – nur der eine mit Schwertern, der andere mit Papieren.“
„Papier!“, fauchte Napoleon.
„Papier wird alt, zerfällt, vergilbt.
Aber Schlachten – Schlachten brennen sich in das Gedächtnis ein.“
Tetje trat näher und wagte eine Frage.
Er konnte nämlich beide verstehen und war neugierig.
„Und was ist mit den Menschen, die unter beiden litten?“
Ob unter Kanonen oder Paragrafen – am Ende trägt der Mensch die Last.“

Napoleon drehte sich, die Augen blitzten.
„Sie sprechen wie ein Philosoph.
Aber sagen Sie mir,
wer verdient das größere Denkmal?:
der wagt und verliert,
oder
der abwartet und gewinnt?“
Der Hutträger mischte sich ein, schnaubend wie Hein und Fiete in der Hafenkneipe: „Sire, wenn man’s genau nimmt – das größte Denkmal kriegt hier in Hamburg sowieso der Fischmarkt. Da wird mehr verhandelt als auf allen Schlachtfeldern zusammen.“
Ein paar Umstehende lachten. Napoleon verzog die Lippen, aber er lachte nicht. Er trat näher an das Denkmal, legte die Hand an den kalten Stein. „Ein Denkmal ist ein Sieg über die Zeit. Doch die Zeit fragt nicht, wer Recht hatte. Sie fragt nur, wer bleibt.“
Tetje notierte den Satz im Kopf. Er wusste, dass dies einer der Momente war, an denen Geschichte und Gegenwart zusammenkamen. Napoleon, der sich mit Bismarck maß, der kleine Mann mit Hut, der den großen Mann mit Helm herausforderte. „Alter schützt vor Torheit nicht!“, murmelte Tetje leise. Am Ende rangen sie alle um die gleiche Frage – wer denn größer war, und wer in Stein gehauen werden durfte.
Tetje wandte sich ab, Bootsmann trottete hinterher. „Komm, wir gehen. Wir bauen unsere eigene Sandburg.“
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