Ich gehe weiter durch mein erträumtes Heim, und schon öffnet sich der Salon im Speiseraum.
Hier ist der Klang zu Hause, denke ich. Ein Raum, in dem Stimmen klingen, Lieder gesungen, Geschichten erzählt und Erinnerungen geteilt werden.
Der Salon ist wie das Deck eines Dampfers, auf dem die Gesellschaft promeniert. Hier wird nicht gekocht, sondern geredet. Hier soll die große Welt des Hafens hereinschweben: Händler, Matrosen, alte Freunde.
Ich sehe einen Flügel in der Ecke. Vielleicht wird abends jemand spielen, vielleicht sogar ein altes Shanty. An den Wänden hängen Bilder von Segelschiffen, und aus den Fenstern blickt man auf die Elbe oder wenigstens auf einen künstlich angelegten Teich, der das Gefühl von Wasser trägt.
Im Salon sollen auch die großen Gespräche geführt werden: Politik, Philosophie, Erinnerungen. Vielleicht sogar Streit, denn ohne Streit gibt es kein echtes Leben. Ich erinnere mich an viele Nächte auf See, wo wir uns stritten über den Kurs – und am Ende hatten wir doch zusammen den Hafen gefunden.
Der Salon muss groß genug sein, dass man atmen kann, und gleichzeitig klein genug, dass man sich nah fühlt. Ich stelle mir Teppiche vor, warmes Licht, Stühle, die einladen zum Bleiben.
Und dann denke ich: Der Salon ist wie ein Chorraum. Ein Ort, an dem jeder eine Stimme hat. Vielleicht wird hier auch das Orakel wieder sitzen, mit ihrem wissenden Blick.
Chor der Griechen
„Der Salon! Ein Ort der Rhetorik,“ ruft Odysseus begeistert.
„Aber nur, wenn man zuhören kann,“ sagt Athene streng.
„Ich will tanzen!“ lacht Dionysos. „Lasst mich mit den Alten tanzen, bis die Stühle kippen!“
Achill brummt: „Wenn es Streit gibt, bin ich dabei.“
Der Chor singt: „Die Stimmen sind Segel im Wind. Manche sind laut, manche leise, doch alle tragen das Schiff. Wohin geht es als Nächstes? In die Werkstatt, wo Hände schaffen, auch wenn sie zittern.“
Sehr gut ⚓️
Dann kommt hier Kapitel 5 – Der Salon der Stimmen, in voller Länge (ca. vier Seiten Text), nahtlos weiter im maritim-hanseatischen Ton, mit Tetje als Ich-Erzähler, ohne Pathos, aber mit Rückgrat, Erinnerungen und salziger Luft im Kopf. Der Chor taucht wieder am Ende auf, diesmal mit stärkerem Widerspruch und einer versöhnlichen Pointe.
Der Salon der Stimmen
Wenn du lang genug auf See warst, lernst du: Die Stille ist trügerisch. Wenn’s an Deck still wird, dann kommt entweder ein Sturm – oder jemand hat was verschluckt, was ihm auf der Seele liegt.
Darum brauch ich im Heim – in meinem Heim, so wie ich’s denk – einen Salon der Stimmen. Nicht so’n feines Musikzimmer mit Klavier und Silberleuchtern. Nee, ein Raum, wo geredet, geflucht, gelacht und gestritten wird. Wo das Leben weitergeht, auch wenn man schon graue Segel gesetzt hat.
Erinnerungen an die Zeit im Mannschaftsraum
Ich erinnere mich an unsere Abende im Mannschaftsraum. Da war nie still. Selbst wenn wir todmüde waren, hat einer noch’n Witz erzählt, der andere hat geschnarcht, und der Dritte hat den Smutje beschimpft, weil der Kaffee wieder nach Altöl schmeckte. Aber das war Leben. Jeder Ton, jedes Schimpfwort war ein Zeichen, dass wir noch zusammenhielten.
Ein Schiff ohne Stimmen ist’n Wrack.
Ein Heim ohne Stimmen – das ist wie’n Hafenbecken ohne Wasser: schön ausgebaut, aber leer.
Übertragung in den Alltag des Heims
Ich will, dass im Salon gesprochen wird. Über das Gestern, das Heute, das, was keiner zu sagen wagt. Und zwar laut, wenn’s sein muss! Da soll nicht „bitte leise“ auf’m Schild stehen, sondern „Hau raus, was dich drückt“.
Wenn einer meint, der Kaffee sei zu dünn – soll er’s sagen. Wenn einer sich über das Essen beklagt, oder über die neue Pflegerin – raus damit. In der Stille wachsen nur Gespenster, hab ich immer gesagt.
Ich hab in meiner Zeit als Betreuer gemerkt: Manche Alten verstummen nicht, weil sie nichts mehr zu sagen hätten, sondern weil keiner mehr zuhört. Und wenn du dann mal nachhakst, kommt was raus, was 40 Jahre festsaß. So ein Satz, der so alt ist wie’n Anker, der nie wieder gehoben wurde.
Erinnerung an einen alten Kameraden
Ich denk da an Hein – alter Bootsmann, grauer Bart, härter als’n Poller. Der hat nie über sich gesprochen. Aber eines Abends, beim Tee, fing er an zu erzählen, wie er seine Tochter verloren hat. Jahrzehnte her, aber er sprach, als wär’s gestern. Danach war er still, aber anders still – ruhiger. Ich hab da verstanden: Worte sind wie Ventile. Wer sie schließt, geht unter.
Darum: Der Salon ist kein Ort für Deko. Der ist’n sicherer Hafen für Geschichten.
Über den Klang der Stimmen
Und wenn du die Stimmen so nebeneinander hörst – die hohen, die brüchigen, die rauen – dann merkst du: Das ist Musik. Keine Symphonie, sondern Hafenkonzert. So wie die Möwen durcheinander schreien, und du trotzdem weißt, wo du bist.
Ich würd den Raum so bauen, dass er warm klingt. Nicht steril. Holz, Stoff, vielleicht ein altes Steuerrad an der Wand. Ein paar Fotos aus der Jugend – echte, keine gestellten. Und wenn einer Geige spielen will, soll er’s tun. Wenn einer Gedichte vorlesen mag, dann bitte. Aber immer so, dass keiner den anderen übertönt.
Tetjes Gedankengang über Zuhören
Weißt du, Zuhören ist auf See das Wichtigste. Wenn der Wind dreht, musst du’s hören, bevor du’s siehst. So ist’s auch im Leben: Wenn einer leiser wird, hat er vielleicht was zu sagen, was schwerer wiegt als Lärm.
Ich hab mal mit ’nem alten Psychologen gearbeitet, der hat gesagt: „Das Ohr ist das letzte Organ, das stirbt.“ Ich fand das schön. Vielleicht, weil’s so wahr ist. Solange wir hören und gehört werden, sind wir noch nicht über Bord gegangen.
Eine Szene aus Tetjes Betreuung
Einmal hatte ich ’ne Gruppe von Senioren, die wollten nicht reden. Immer dieselben Phrasen: „Geht so“, „alles gut“, „muss ja“. Ich hab dann ein Mikrofon mitgebracht, so ein altes Funkgerät aus meiner Zeit auf’m Schiff. Ich hab gesagt: „Hier, das ist euer Bordfunk. Wer spricht, ist Kapitän.“
Erst haben sie gelacht, dann einer geflüstert, und plötzlich sprudelte’s. Eine Frau erzählte von ihrer Flucht, ein anderer vom ersten Kuss im Bunker, einer vom Enkel, der nie zurückrief. Der Raum war voll Geschichten. Ich hab fast geheult, so schön war das.
Die Idee des Salons
Darum muss der Salon ein Raum sein, der nicht fragt: „Wie geht’s?“ – sondern: „Erzähl mal.“
Da kann man sich anlehnen, einen Rum trinken (oder Kakao, wenn’s lieber ist), und einfach erzählen, bis die Zeit stillsteht.
Ich sag dir: Worte sind Ruder. Wer sie benutzt, bleibt steuerfähig.
Chor der Griechen
Odysseus (spöttisch): „Er glaubt, Worte reichen aus, um Kurs zu halten? Ich hab schon Männer verloren, weil sie zu viel redeten!“
Achill (heftig): „Und ich, weil ich zu wenig sprach! Schweigen ist auch Tod.“
Dionysos (lachend): „Ich sag: Lasst die Alten reden, bis der Wein leer ist. Dann wissen sie wenigstens, dass sie leben.“
Hera (ruhig, aber streng): „Es braucht Zuhörer. Worte, die ins Leere fallen, sind wie Flaschenpost ohne Meer.“
Athene (nachdenklich): „Doch er baut keinen Tempel, sondern eine Brücke aus Stimmen. Vielleicht ist das Weisheit, nicht Torheit.“
Und der Chor spricht gemeinsam, mal laut, mal leise, wie Wind im Takelwerk:
„Wer redet, segelt.
Wer schweigt, sinkt.
Und wer zuhört, hält das Ruder.
So sei der Salon ein Hafen für Worte,
wo keiner über Bord geht,
solang einer noch erzählt.
Und nun, Tetje – wohin führt dein Kurs?
Wenn die Stimmen leiser werden,
wer spielt dann die Musik des Herzens?“
⚓️ Ende Kapitel 5 – „Der Salon der Stimmen“
