Das Uni-Leben in Bordeaux „Von Durkheim bis Lévi‑Strauss“

Als Émile Durkheim Ende des 19. Jhdts. in Bordeaux lehrte, veränderte er das wissenschaftliche Verständnis des Menschen radikal. Er stellte die These auf, dass soziale Tatsachen – wie Religion, Selbstmord oder Arbeitsteilung – eigenständige, objektive Phänomene seien. Seine Methodik legte den Grundstein für empirische Soziologie: Durkheim definierte klare Begriffe, entwickelte statistische Verfahren und bewies, dass man gesellschaftliche Prozesse mit wissenschaftlicher Strenge untersuchen konnte. Damit verschob sich das Menschenbild vom philosophisch-transzendenten hin zum analytisch-sozialen Wesen.

In der ersten Hälfte des 20. Jhds. zog auch Claude Lévi‑Strauss das Interesse vieler Bordeaux-Wissenschaftler auf sich. Sein Strukturalismus zeigte, dass selbst scheinbar zufällige kulturelle Praktiken tiefgehenden, universellen Strukturen unterliegen – etwa in Mythologien oder Verwandtschaftssystemen. Zwar war er nicht fest an der Universität Bordeaux, aber seine Theorien bereicherten den dortigen Ethnologie-Diskurs und inspirierten junge Forschende, kulturelle Phänomene als Ausdruck von mentalen Strukturen zu begreifen.

Zugleich gewann der Existenzialismus—vorgeführt von Denkern wie Sartre und Merleau-Ponty—an Bedeutung. Sie rückten die individuelle Erfahrung, Freiheit und leibliche Existenz in den Vordergrund, was Ethnolog:innen und Psycholog:innen bewegte, Feldstudien immer stärker als persönliche Begegnungen zu verstehen. Diese Richtung beeinflusste das Denken in Bordeaux besonders seit den 1960er-Jahren.

Einen weiteren tiefgreifenden Impuls brachte Michel Foucault, der mit seinen Diskursanalysen und der Konzeptualisierung von Macht-Wissen-Netzwerken neue Sichtweisen eröffnete. Seine Popularität in Bordeaux lag darin, dass er nahelegte, dass Institutionen – wie Schulen, Kliniken oder Gefängnisse – nicht nur Orte praktischer Machtausübung, sondern auch Räume tief verankerter Denkformen sind. Forscher an der Universität begannen, den menschlichen Alltag durch Foucaults Linsen zu betrachten – die Sprache, Rituale, Normen wurden zu Untersuchungsobjekten.

Parallel dazu bauten Ethnolog:innen in Bordeaux ihre Praxis stark aus – mit Feldforschung in Afrika, Ozeanien und Lateinamerika. Sie kombinierten klassische teilnehmende Beobachtung mit strukturalistischen und existenzialistischen Methoden. Die Ergebnisse bereicherten nicht nur ethnologische Theorien, sondern prägten auch die Psychologie: Sozialpsycholog:innen begannen, Emotionen, Identität und Erleben als kulturell geformte Phänomene zu verstehen.

Der interdisziplinäre Austausch in Bordeaux, jahrzehntelang in Cafés von Saint‑Pierre gepflegt, führte dazu, dass Psychologie, Soziologie und Ethnologie nicht getrennt operierten, sondern ein gemeinsames Interesse an Mensch und Kultur pflegten – stets mit Respekt vor Vielfalt und individuellen Erfahrungswelten.

  • Émile Durkheim (1858–1917): Begründer der empirischen Soziologie, mit Fokus auf soziale Tatsachen und statistische Methodik.
  • Claude Lévi‑Strauss (1908–2009): Strukturalist, der kulturelle Systeme als Ausdruck tiefer, universeller Strukturen deutete.
  • Existenzialisten (z. B. Sartre, Merleau-Ponty): Legten wert auf individuelle Erfahrung, Freiheit und Lebensorientierung – beeinflussten ethnologische Feldstudien.
  • Michel Foucault (1926–1984): Diskurs- und Machtanalysen prägten die Betrachtung von Alltag und Institutionen.

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Tetje Velmede

Tetje Velmede Dipl. Sozialpsychologe (.fr) consultant formateur training & coaching