
Ich trete in das Hinterzimmer des alten Kaffeehauses Café d’Oc in der Altstadt von Bordeaux.
Früher duftete hier der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee, begleitet von frisch gebrühten Cafés.
Dieser Duft hatte nicht nur die Morgenstund im Mund, sondern auch die viel zu leckeren und großzügig verschenkten Küchlein der Gegend.

Die Morgenstunde fällt durch die alten, großen Fenster, und das Licht zeichnet lange Schatten auf die Tische und das Schachbrett.
Das Schachbrett gehörte hier einfach dazu, vom Frühstück bis zum Mittag durfte es mit uns auf dem Tisch stehen. Hier sitzen sie alle – Peter, der amerikanische Obdachlose und Kunsthändler, trug damals noch seinen Gürtel. Er hatte ihn später gegen ein paar Blautöne und Rotweine eintauschen müssen. Er war, wie schon ein paar andere davor, schon lange nicht mehr bei uns.
Napoléon war auch da, und er war nicht allein. Johannes G., Schinkel und Mademoiselle de Staël saßen mit ihm auf den Fensterplätzen zur Straße Rue du Parlement Saint-Pierre.
Kappe lehnt sich vor, seine Finger schweben über den Schachfiguren wie auf einem Feldzug. „Sag mal, Tetje,“ murmelt er, „würdest du deinen Bootsmann an Land lassen, wenn du selbst an Bord gehst?“
Ich lächele leicht: „Kappe, das kommt auf Wind und Tide an. Manchmal reicht die Erfahrung eines einzigen Bootsmanns, manchmal muss man selber rudern.“ Bootsmann wedelt wie ganz zufällig mit der Rute, als wollte er sagen: „Ich bin bereit. Es geht los.“
Talleyrand, schon immer ein Meister der List, lenkt durch einen Fingerzeig ab und hebt eine Figur. Er grinst:
„Wer die Kontrolle über die Figuren verliert, verliert das Spiel des Lebens.“
Goethe kritzelt natürlich wie immer nebenbei Notizen. Er hatte sich das unterwegs auf einer seiner Reisen angewöhnt. Ganz wie andere Leute immer etwas in der Hand halten müssen, so hatte er halt immer einen Bleistift zur Hand. Zu seiner Seite gewandt, also zu mir, sagte er: „Wer die Züge des Alters vorausdenkt, muss die Karten des Schicksals verstehen.“
Schinkel nickt, die Brille auf der Nase: „Und die Räume, die wir bauen, müssen Luft und Licht lassen, selbst wenn die Bewohner schwach werden.“ Madame de Staël wirft ein: „Und wer sorgt dafür, dass wir nicht allein bleiben, wenn die Figuren sich bewegen?“ Auf die Frage konnte keine(r) eine Antwort finden. Und du?
Ich betrachte das Schachbrett und die kleinen Holzfiguren, jede ein Symbol für eine Entscheidung, ein Leben, einen Menschen. Jeder Zug spiegelt Fragen, die uns alle betreffen: Wer wird später Verantwortung übernehmen, wenn wir nicht mehr können? Wer lenkt die Züge im Altersheim, wer entscheidet über das Leben der Alten, die auf uns folgen?
„Die Züge sind gesetzt,“ murmelt Kappe. „Manchmal scheint alles klar, aber eine Bewegung reicht, und das ganze Spiel verändert sich.“ Ich nicke, spüre die Tiefe seiner Worte. Bootsmann stupst meine Hand, als wolle er sagen: „Ich bleibe bei dir, egal was kommt.“
Die Gespräche werden lebhafter. Talleyrand spielt Angriff und Verteidigung gleichzeitig, seine Stimme schneidend: „Das Altern ist wie Schach – jeder Schritt muss bedacht sein, sonst verliert man alles.“ Goethe fügt leise hinzu: „Erinnerungen sind wie Figuren, die wir bewegen, um das Leben zu ordnen.“ Madame de Staël wirft scharfe Fragen in den Raum: „Und was, wenn wir die Kontrolle verlieren? Wer sorgt dann für Würde und Gemeinschaft?“
Schinkel zeichnet mit der Hand in die Luft, als würde er Räume entwerfen: „Wenn wir Lebensräume planen, denken wir oft an Wände, aber die Seele braucht Licht und Nähe.“ Ich sehe, wie Kappe nickt, seine Finger zögern über dem Springer. „Ich habe Feldzüge geführt, Tetje, aber hier zählt jeder kleine Schritt.“
Bootsmann streckt die Nase hoch, schnuppert am Schachbrett, als wolle er die unsichtbaren Kräfte spüren, die hier wirken. Ich lächle: „Ein treuer Freund ist manchmal mehr wert als jede strategische Figur.“
Die Diskussion driftet ab in persönliche Gedanken: Goethe sinniert über die Vergänglichkeit, Talleyrand über Macht und Kontrolle, Madame de Staël über die Nähe und die Einsamkeit, Schinkel über die Architektur des Alters. Ich nehme alles auf, mische meine eigenen Fragen hinein: Wie gestalten wir ein Heim, das nicht nur Schutz bietet, sondern auch Freude, Humor und Erinnerung?
Der Wind draußen trägt den Geruch von Regen und Salzwasser hinein – ein kleiner Gruß des Hafens, der niemals schläft. Ich sehe, wie die Schauerleute damals schwere Kähne zogen, wie der Haferkran arbeitete, wie Frauen mit Körben voller Zitronen über den Markt eilten. Alles verschmilzt in meinen Gedanken mit der Diskussion hier. Jede Figur im Raum ist wie eine Erinnerung an das Leben, das vor uns lag.
„Tetje,“ sagt Kappe leise, „manchmal scheint es, als könnten wir die Züge unseres Lebens nicht steuern.“ Ich antworte ebenso leise: „Aber wir können die Figuren wählen, die uns begleiten. Bootsmann ist ein Beispiel.“ Der Hund legt sich zufrieden zu meinen Füßen, während Napoleon lächelt, das Schachspiel für einen Moment vergessend.
Die Stunde vergeht, Gespräche fließen, Lachen mischt sich mit Ernst. Jeder zieht seine Gedanken wie Figuren über das Brett. Talleyrand wirft: „Und was, wenn das Alter uns zwingt, andere Züge zu akzeptieren?“ Goethe antwortet: „Dann ist die Erinnerung unser Kompass.“ Madame de Staël nickt: „Und Freundschaft der Anker.“
Ich lehne mich zurück und betrachte das Schachbrett. Die Figuren sind kleine Menschen, die wir führen oder beobachten. Sie sind wie die Bewohner eines Altersheims: mal stark, mal schwach, mal klug, mal stur. Wir können nicht immer lenken, aber wir können sorgen, dass das Spiel weitergeht, dass niemand verloren geht.
Als die Dämmerung endgültig hereinbricht, sehe ich die Schatten der Figuren länger werden. Jede Bewegung auf dem Brett wird zu einem Spiegel unserer Entscheidungen, unserer Verantwortung. Bootsmann hebt die Nase, als wollte er sagen: „Alles im Griff, Tetje.“ Ich streichle seinen Kopf, danke ihm für seine stille Wachsamkeit.
Wir stehen auf, sammeln unsere Gedanken, die Figuren bleiben auf dem Brett zurück, bereit für die nächste Runde.
Das Hinterzimmer ist still geworden, nur der Duft von Kaffee und Holz erinnert an die Gespräche, die hier stattgefunden haben – über Alter, Verantwortung, Freundschaft und die Züge, die wir im Leben setzen.
Ich weiß, dass diese Stunde Spuren hinterlassen wird – in unseren Gedanken, in den Erinnerungen, in der Art, wie wir über das Leben, das Altern und das Miteinander nachdenken. Bootsmann folgt mir zur Tür, als wollte er sagen: „Wir sind bereit, Tetje, was auch immer kommt.“

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